Liebe Gemeinde!
1) (BG)
Von der wundersamen Rettung Mose aus dem Schilf des Nil
davon haben wir alle schon gehört, eine bekannte
Geschichte ist das. Aber wie es dazu kam, die eben gehörte
Vorgeschichte: ich vermute, daß sie vielen bis heute
unbekannt war.
Schifra und Pua: zwei Frauennamen, unbekannt und ungehört,
und überhaupt eine unerhörte Geschichte.
2) (IW)
Also, ich will ja nicht bei Abraham und Sara anfangen,
aber ein bißchen mehr aus der Vorgeschichte sollten wir
schon erzählen.
Wie war das?
Josef hatte seinen alten Vater 130 Jahre war er alt
mit seinen Brüdern nach Ägypten geholt. Der
Schluß des 1. Buches Mose erzählt uns, daß Josef noch
die Enkel seiner Söhne schauen konnte.
Etwa 30 Jahre mögen seit dem Tod Josefs vergangen sein,
da ergreift ein neuer König die Macht in Ägypten.
"Er erhob sich über Ägypten", heißt es in
unserer Geschichte. Und das ist sprechend: denn ein
Usurpator ist er, einer, der widerrechtlich an die Macht
kommt. Schlußstrichmentalität herrscht; neu soll alles
sein. Alte Bindungen, Vereinbarungen und Verträge gelten
nicht mehr. Von Josef und seinen Verdiensten will der neue
Pharao nichts mehr wissen.
3) (BG)
Seit Jakob und sein Haus nach Ägypten gekommen waren,
die ganze Zeit über bis zu unserem neuen Herrscher ging
es den Kindern Israel gut: sie waren fruchtbar und
mehrten sich, sie breiteten sich im ganzen Land Ägypten
aus ( und G"tt sah, daß es gut war.)
4) (IW)
Waren sie denn inzwischen Einheimische geworden, modern
gesagt:
hatten sie die ägyptische Staatsangehörigkeit erhalten?
Oder welche Stellung hatten sie?
5) (BG)
Ich habe hier eine Urkunde, die stammt noch aus der Zeit
des alten Pharao, 50 J. vor dem Machtwechsel datiert. Da
heißt es:
"Vertrag zwischen Pharao Amenophis IV. Echnathon, König
von Ägypten, und Jakob ben Isaak, genannt Israel:
§ 1) Jakob, genannt Israel, und sein ganzes Haus sind
als Gäste zu uns gekommen. Als solche sind sie frei und
nicht Untertanen des ägyptischen Staates.
§ 2) Der ägyptische Staat überläßt Israel den besten
Teil des Landes Ägypten, die Provinz Goschen, als
Siedlungsgebiet.
§ 2a) Zugleich wird Israel das Recht gewährt, überall
im Staatsgebiet zu siedeln und sich niederzulassen.
§ 3) Der ehemalige Vizekönig Josef, Sohn des
obengenannten Jakob, ist befugt, befähigte Männer
seiner Sippe als Aufseher und Verwalter über den ägyptischen
Viehbestand einzusetzen."
Aber davon wollte der neue Pharao nichts mehr wissen.
6) (IW)
Warum denn eigentlich nicht? Was ist denn vorgefallen?
Was haben die Israeliten denn falsch gemacht?
7) Gar
nichts haben sie falsch gemacht. Außer wenn man
so will das Vertragsangebot anzunehmen und zu
verwirklichen: in ganz Ägypten zu siedeln, sich und den
Wohlstand des Landes zu mehren.
8) Also
konnte Pharao sie irgendwie nicht leiden?!
Mir
scheint, Angst ist da mit im Spiel. Einerseits müßte
ihm doch die Vitalität und der Fleiß der Israeliten
imponiert haben. Aber wie so oft führt das dazu, sich
unterlegen und minderwertig zu fühlen (Pause).
Und dann
sind es noch nicht einmal die eigenen Leute, sondern
Fremde, die da so erfolgreich sind. Profitieren möchte
man ja schon von ihnen, aber Tür an Tür wohnen? Immer näher
rücken sie, überall sind sie: erfolgreich, tüchtig,
zahlreich.
9) (BG)
Ganz genau. Und jetzt höre noch einmal auf die Volksrede
Pharaos. Unser neuer König wendet sich nämlich direkt
ans Volk, an sein Volk:
"Seht, das Volk Israel ist stärker und zahlreicher
als wir."
10) (IW)
Das stimmt doch gar nicht!
11) (BG)
Höre noch weiter, wie Pharao seinem Volk den Volksfeind
konstruiert:
"Wohlan, wir wollen gegen das Volk Israel klug
vorgehen, sonst wird es noch zahlreicher..."
12) (IW)
Aha, es soll die Absicht nicht merken!
13) (BG)
"..und es könnte geschehen, stünde uns ein Krieg
bevor, und es käme noch zu denen hinzu, die uns hassen,
und führte Krieg gegen uns, daß es dann aus dem Lande
hinaufzöge."
14) (IW)
Könnte, käme, führte, zöge alles nicht real,
sondern Hirngespinste eines Paranoikers (Pause) .
Was
will Pharao denn eigentlich? Er will die Israeliten doch
loswerden, warum schickt er sie dann nicht fort? Oder wie
das heute heißt: warum schiebt er sie nicht einfach ab?
15) (BG)
Ja wirklich nicht so einfach, den Gedankengängen Pharaos
zu folgen.
Ich
glaube: er kann Israel nicht ziehen lassen. Einmal
benötigt er Arbeitskräfte. Dann aber fürchtet er,
Israel kehrte als Ägyptens Feind wieder, verbündet mit
anderen Feinden.
Aber was fürchtet er denn: etwas, was es nicht gibt
etwas, was es noch nicht gibt, was es allerdings
geben könnte. Weil nämlich Pharao all sein Denken und
Handeln an einem Feind ausrichtet, den es überhaupt
nicht gibt, schafft er sich und Ägypten allererst den
Volksfeind.
16) (IW)
So etwas heißt heutzutage wohl eine Projektion oder eine
sich selbst erfüllende Prophezeiung!
17) (BG)
Ja, und es gibt noch einen Grund, warum Pharao Israel
nicht ziehen lassen kann. Pharao ängstigt sich, weil er
spürt: Israel ist seiner Herrschaft letztlich entzogen.
Einem anderen König ist es untertan. Es ist Volk G"ttes.
Von G"tt aber will Pharao nichts wissen. Deshalb wird er
auch später zu Mose sagen:
" Wer ist der Herr, daß ich ihm gehorchen und
Israel ziehen lassen müßte? Ich weiß nichts von dem
Herrn, und ich werde Israel auch nicht ziehen lassen"
(EX 5,2).
Würde Pharao Israel ziehen lassen, dann würde er G"tt,
den König des Himmels und der Erde anerkennen.
18) (IW)
Weißt du, was ich mich die ganze Zeit auch frage?
Wie kann die Propaganda Pharaos greifen, warum folgt ein
ganzes Volk seiner "Logik"?
19) (BG)
Zwar beschwört der neue König die Volksgemeinschaft,
aber: die Masse der Ägypter ist zu dieser Zeit leibeigen
geworden, ohne eigenen Landbesitz und von Pharao direkt
abhängig. Da kam sein Plan gerade gelegen, eine
entrechtete Pariakaste zu schaffen, das Arbeitsheer der
Israeliten. Was für eine Genugtuung, was für ein
Hochgefühl: Unfreie dürfen Herren spielen
Fronvogt wird man gar. Zwar selbst unfrei, befiehlt man
anderen, sieht auf sie herab und drangsaliert sie. Die gröbsten
und schwersten Arbeiten müssen fortan die Israeliten
verrichten, z.B. die Arbeit, die Felder zu bewässern
wahre Knochenarbeit!
Aber trotzalledem: Knechte sind die Ägypter geblieben.
Und so halten die geknechteten Israeliten den Ägyptern
ihr eigenes Elend wie in einem Spiegel vor.
Zuwider sind sie dem ägyptischen Volk, je zahlreicher
Israel wird, desto mehr wächst Ägyptens Ekel.
20) (IW)
Unheimlich ist das, wie da eins in das andre greift
gleich einem Räderwerk.
Wie der Herr, so der Knecht: ein Volk, ein Führer: Angst
und Ekel schweißen sie zusammen. Da nimmt es nicht
Wunder, daß Pharao nicht dabei stehen bleibt, Israel
durch ein Arbeitsregime zu verelenden. Er will
Israel in seinem Lebensnerv treffen, es physisch
vernichten.
Eine perfide Doppelstrategie denkt Pharao sich aus:
Einmal setzt er auf das Programm "Vernichtung durch
Arbeit", um die bereits erwachsenen
Israeliten auszulöschen. Um Israels Lebensnerv auch für
alle Zukunft abzutöten, befiehlt er zweitens die
Tötung aller männlichen Säuglinge Israels.
21) (BG)
Ja, und nun geschieht das ganz Unerwartete: die
Mordmaschinerie gerät ins Stocken; zwei Frauen, Schifra
und Pua, greifen dem Räderwerk in die Speichen und
bringen es vorerst - zum Stehen.
22) (IW)
Befehlsverweigerung?
23) (BG)
Mehr noch: Schifra und Pua tun alles, um die Neugeborenen
am Leben zu erhalten.
24) (IW)
Haben sie denn keine Furcht?
25) (BG)
Doch, eine Furcht haben sie: G"tt fürchten sie.
Ihre G"ttesfurcht stärkt den beiden Frauen den Rücken.
Ihr G"ttvertrauen trägt sie in ihrem Widerstand und in
ihrer klugen Rede gegenüber Pharao.
26) (IW)
Ja, ihre Rede wirklich ein Bravourstück
weiblicher List. Virtuos spielen sie auf der Klaviatur männlicher
Phantasie. Denn eigentlich ist ihre Erklärung doch
hahnebüchen. Und man kann gar nicht verstehen, warum der
so kluge Pharao den Frauen auf den Leim kriecht. Denn was
erzählen Schifra und Pua Pharao?
Anders als die ägyptischen seien die israelitischen
Frauen; so vital und lebenskräftig fast wie Tiere:
ruckzuck gebären sie, bevor die Hebammen noch
rechtzeitig eintreffen könnten. Damit haben sie Pharaos
wunden Punkt getroffen. Angst hat er doch vor den so
vitalen Frauen der Fremden.
Und so glaubt Pharao den beiden Frauen ihr Ammen-, ihr
Hebammenmärchen und läßt sie ungeschoren davonkommen.
27) (BG)
Ja, und so retten die beiden mit ihrem listigen
Widerstand das Leben der Kinder und ihr eigenes (Pause).
Aber nicht nur in der Geschichte gibt es Widerstand, der
Text selbst leistet Widerstand. Wie das geht?
Im ganzen ersten Teil unserer Geschichte nämlich werden
Israel und die Israeliten bei ihrem Eigennamen genannt.
Im gleichen Moment aber, als Pharao die Tötung der Säuglinge
befiehlt, ändert die Macht ihre Sprache: aus Israeliten
werden bloße Hebräer, d.h. soviel wie Umherwandernde,
wie es sie überall damals in den orientalischen Ländern
gab. So wie Pharao die Zukunft Israels vernichten will,
so will er auch den Namen, die Identität Israels auslöschen:
Jakob, genannt Israel und sein ganzes Haus.
28) (IW)
Das kennen wir doch aus der jüngsten Vergangenheit. In
Bosnien z.B. gab es nicht nur die sog. "ethnischen Säuberungen".
Mit der Vernichtung der kirchlichen Stammbücher sollte
auch dort die Identität und Vergangenheit eines ganzes
Volkes ausgelöscht werden.
29) (BG)
Ja, und dagegen leistet die Tora, die hebr. Bibel
Widerstand: als Pharao Israel an den Namen geht, im
selben Satz gibt die Tora den beiden Frauen ihren
Eigennamen: Schifra und Pua. Mehr noch: Die Bibel läßt
die beiden nicht nur zu ihrem Namen, sondern auch zur
Sprache kommen. Denn, abgesehen von dem Despoten, sind
sie die einzigen, die direkt zu Wort kommen.
Übrigens: Dem Despoten verweigert die Tora den
Eigennamen, er bleibt namenlos.
30) (IW)
(Pause)
Aber
das Räderwerk kommt wieder in Gang, tödlicher als zuvor.
Denn am Schluß unserer Geschichte befiehlt Pharao seinem
ganzen Volk:
Werft alle Knaben in den Nil, alle, d.h. nicht nur die
israelitischen Knaben
(Pause).
Und wenn wir jetzt Bilanz ziehen:
Was hat der Widerstand der tapferen Frauen gebracht? Hat
ihre G"ttesfurcht die Mordmaschinerie vielleicht sogar
angeheizt? Und wo ist überhaupt G"tt in dieser
Geschichte?
31) (BG)
Was hat der Widerstand gebracht? Letztlich hat er die
Gewaltmaschinerie nicht gestoppt, das Räderwerk nicht
zerbrochen. Aber etwas anderes vermochte er: die
Retttungstat von Schifra und Pua hielt den mörderischen
Lauf der Geschichte für einen Augenblick auf
eine zwar nur kurze Zeit, in der die Logik der
Gewalt unterbrochen war.
32) (IW)
Unterbrechung ja. Andererseits provoziert der Widerstand
den Despoten, noch gewalttätiger und brutaler vorzugehen:
alle Ägypter sollen Täter, alle Knaben Opfer werden,
gleich welchem Volk sie angehören.
33) (BG)
Hätten Schifra und Pua denn auf ihre Rettungstat
verzichten sollen, bloß weil sie vermuten konnten, daß
die Macht sich nicht folgenlos provozieren läßt?
34) (IW)
Nein, und daraus ergibt sich für mich: weil ich die
Zukunft in ihrer Gänze nicht ausrechnen kann, kann ich
auch nicht alle Wirkungen und Gegenwirkungen meines
Handelns verantworten. Was ich aber verantworten kann und
muß, das ist mein Tun im Hier und Jetzt. Und so haben
auch die beiden Frauen gehandelt. Sie retteten Leben,
hier und jetzt. Damit wählen sie das, was gewiß ist.
Sie handelten aber auch in Verantwortung vor G"tt: G"ttes
Forderungen entlassen uns nie aus der Pflicht, hier und
jetzt verantwortlich zu handeln.
Und wie
handelt G"tt selbst in unserer Geschichte?
35) (BG)
Zunächst einmal wie Er nicht handelt: Er zerschlägt
nicht die große Maschinerie; Er setzt nicht auf "Macht
gegen Macht". So wie Schifra und Pua sich an Ihn
binden, so bindet Er Sein Tun an ihr Tun. Er antwortet
auf ihre Rettungstat: weil die beiden Frauen Leben
bewahren, segnet Er sie. Er segnet sie, indem Er das
gerettete Leben Israels mehrt und indem Er wie es
heißt - den hebr. Hebammen "Häuser baut". Was
heißt das?
Die
Rabbiner legen es so aus:
nicht nur Mütter vieler Kinder werden sie, sondern Stammütter
zweier Dynastien: sowohl das Königtum als auch das
Priestertum Israels gehen aus ihnen hervor.
Also
gibt G"ttes Segen Israel die bedrohte Zukunft zurück.
Der Widerstand von Schifra und Pua konnte sich gerade
nicht auf eine sichere Zukunft stützen. Ob ihre
Rettungstat für die fernere Zukunft Israels von
entscheidender Bedeutung sein würde, davon wußten sie
nichts. G"tt aber nimmt ihre "Unterbrechung"
auf und antwortet auf sie. Mitten im Morden wirkt G"tt
das Wunder einer ganz besonderen Rettung. Wieder bindet
Er sich an das Handeln zweier Frauen:
Die
Tochter des ägyptischen Pharao und Miriam. Sie retten
den Knaben Mose aus dem Schilf des Nil, unter dem Schutz
der ägyptischen Königstochter wächst Mose bei seiner
Mutter auf.
G"tt und
Mose werden Israel aus dem Sklavenhaus Ägypten herausführen,
die Welt des Todes und der Gewalt werden sie hinter sich
lassen; am Sinai nehmen sie die Lebensordnung der
Tora auf sich.
Amen.