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Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?
Der zwölfjährige Jesus im Tempel
unter den Schriftgelehrten

Predigt über Lukas,
Kap 2, vv. 41-52

Brigitte Gensch

Liturgie des G"ttesdienstes
.

Der zwölfjährige Jesus im Tempel - Max Liebermann

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist,
der da war und der da kommt!

Liebe Gemeinde!

„Jesus wird flügge“ – so könnte ein Titel für die gerade gehörte Geschichte in einer modernen Bibelübersetzung lauten, die auch das Kölner Lokalkolorit beachten möchte. „Flügge werden“: das sagt man zu den ersten selbständigen Geh- und Flugversuchen von solchen Menschenkindern, die nicht mehr nur kindlich, aber auch noch nicht junge Erwachsene sind, sondern irgendwo dazwischen mit ihren 12 oder 13 Jahren am Beginn der Pubertät.
Flugversuche auf der Suche nach sich selbst: was geht in und mit mir vor? Wer bin ich? Wem kann ich vertrauen, wer sind meine Freunde? Woran soll ich mich orientieren? 
Und immer sind diese ersten staksigen Suchbewegungen solche, mit denen man sich vom Elternhaus absetzt, von den Alten, die zwar alles besser, aber eben nicht das Richtige wissen.

Auch der zwölfjährige Jesus vollführt eine solche erste Absetz- und Suchbewegung, allerdings ist sie durchaus nicht staksig und vage, nein, der hochbegabte Knabe weiß schon recht genau, was er will und wo er suchen muß.
Was ist passiert? Die ganze Familie ist von Nazareth hinaufgezogen nach Jerusalem, denn es ist Pessach, das Fest, da alle jüdischen Familien den Auszug aus der ägyptischen Sklaverei acht Tage lang im Tempel zu Jerusalem feiern.
Die Stadt „brummt“, ist voller Menschen, mitgebrachtem Vieh und allerlei Handelswaren, denn es gehört zu den religiösen Pflichten im Judentum, zu Pessach aus ganz Israel und aus allen Ländern nach Jerusalem zu ziehen, mit der ganzen Familie, um im Tempel zu beten, Opfer darzubringen und - wie es öfter in der Weisung, in der Tora heißt – um vor dem Angesicht G"ttes zu feiern, also fröhlich zu sein. Pessach, zusammen mit Pfingsten und dem Laubhüttenfest, gehört zu den drei sog. Wallfahrtsfesten in Jerusalem, das deshalb zur Festzeit voll, ja übervoll war. 
Im Gefühl und Gedränge des allgemeinen Aufbruches am Ende des Festes gerät Jesus außer Sichtweite der Eltern; doch die sind zunächst unbesorgt und wähnen den Knaben bei der Reisegesellschaft, bei den Verwandten und Bekannten der Familie. 
Schon eine Tagesreise auf dem Heimweg aber müssen sie bestürzt feststellen, daß der Junge wohl schon in Jerusalem verloren gegangen ist. Eilig kehren die Eltern um und finden ihr Kind nach drei Tagen ihrer angstvollen Suche endlich im Tempel. 
Die Mutter, recht typisch, geht ihren Sohn mit einer Mischung aus Moral und verletztem Gefühl an:
„Kind, warum hast du uns das angetan?“ 
Und mit pädagogischem Geschick fährt sie fort, den schweigsamen Vater miteinbeziehend:
„Siehe, dein Vater und ich suchen dich mit Schmerzen.“
Die Eltern als Block, als Einheit, die sich nicht auseinanderdividieren läßt, nicht im Gefühl und nicht in der Vorhaltung: „Kind, warum hast du uns das angetan?“
Und der Junge antwortet, typisch Jesus, mit einer Gegenfrage. Die Antwort ist so trotzig-schroff wie abgeklärt, und sie fällt verletzend aus:
„Warum habt ihr mich gesucht? Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?“
Fast will es scheinen, als ob die Abgeklärtheit, die Jesus seinen Eltern zeigt, die eigene Verletztheit verbergen soll. Verletzt deshalb, weil die Eltern ihn und das, was ihn antreibt, sowenig verstehen.
„Wißt ihr denn nicht, daß ich noch eine andere Herkunft und ein anderes Ziel habe als eure Enge da in Nazareth, daß ich nie und nimmer ein Handwerker und Zimmermann wie du, lieber Vater Josef, sein werde. Hierher nach Jerusalem gehöre ich, hier kann ich lernen und lehren, und hier bin ich meinem himmlischen Vater nahe, hier im Tempel zu Jerusalem.“ 
So ist es also heraus, die Ankündigung, die Eltern zu verlassen, und die Aufkündigung, ihnen zuzugehören. Vaterschaft gegen Vaterschaft – das verletzt, und kein Wunder, wenn Lukas vermerkt: und die Eltern verstanden das Wort nicht, das Jesus zu ihnen gesagt hatte.
Immerhin, der Abgrund, der sich für einen Augenblick in dieser Szene geöffnet hat, wird wieder geschlossen. Jesus folgt seinen Eltern gehorsam nach Nazareth zurück und bleibt für viele weitere Jahre in der elterlichen Obhut.
Er lernt,
„nimmt an Weisheit zu“ (V. 52), und sein erster öffentlicher Auftritt als Rabbi ist dann auch in Nazareth, in einer Synagoge zum Schabbat – MorgenG"ttesdienst, zwei Kapitel weiter im Kap. 4 des Lk - Ev. können wir es nachlesen.

Leider erfahren wir nicht genau, was alles und wie Jesus gelernt hat, dort in Nazareth und da in Jerusalem, überhaupt läßt uns unsere theologische wie kirchliche Tradition weitgehend im Stich, uns den lernenden Christus zu zeigen.
Ganz im Gegenteil:
traditionell hat unsere Kirche in Bildern und Worten alles daran gesetzt, Christus nach ihrem Selbstbildnis zu schaffen. Nach dem Bildnis einer lehrenden Kirche: ecclesia docens heißt das im Latein der Gebildeten. Eine Kirche, die sich im Besitz der Wahrheit glaubt und auch so lehrt, gesprächsunfähig und dialogunwillig und sehr oft den Anderen, vor allem Andersglaubenden über den Mund fahrend. Sie hat es sich auch mehr unter dem Druck der äußeren Verhältnisse, zudem noch nicht so lange und noch nicht überall abgewöhnt...
Wie die Kirche so ihr Christus: lehrend, allein auf einem Thron sitzend, von einschüchternder Autorität, recht weit weg von den Leuten, manchmal schon sehr fern im Himmel thronend.

Aus der Fülle der Bildnisse, die von unserer Geschichte inspiriert wurden, habe ich Ihnen heute zwei Beispiele mitgebracht, oder wenn Sie so wollen: ein Beispiel und ein Gegenbeispiel.
Das erste Beispiel zeigt das
Siegel der Albert-Ludwig-Universität in Freiburg. Seit 1457 besitzt die Freiburger Universität das Siegelrecht, und genauso alt ist auch die abgebildete Fassung. Die Bildmitte zeigt so etwas wie den Schnitt durch eine gotische Kirche. Im Zentrum, erhöht und sehr dominant, sitzt der lehrende Christus, mit bartlosem Gesicht und einem kreuzförmigen Nimbus. Seine Rechte hält dem Betrachtenden ein aufgeschlagenes Buch entgegen, die Hl. Schrift, auf die die Linke hinweist. Bärtige Gestalten mit spitzen Hüten schauen aus den drei kleinen Öffnungen oberhalb und sitzen unterhalb zu Füßen der lehrenden Gestalt. Die Hauptfigur wird als der jugendliche Jesus im Tempel gedeutet, die anderen Figuren stellen die jüdischen Schriftgelehrten dar, die nach der Vorschrift des Mittelalters die typischen spitzen Hüte tragen.
Aber der Jude Jesus, der Christus, hat keinerlei Gesprächsgemeinschaft mit ihnen, seinen jüdischen Lehrern, wie abgeriegelt gegen sie und sehr allein sitzt er da im Zentrum; perfekt von Anfang an, gelehrt wie kein zweiter und keines Gespräches, keines Gedankenaustausches bedürftig.
Es wird Zeit, Christus aus dieser Isolation heraus- und zu den Menschen herunterzuholen. Und recht besehen haben wir das auch schon getan, als wir nämlich zur Kollektensammlung das Lied „Gottes Sohn ist kommen“ gesungen haben [s. Liturgie ]. Der Text des Liedes erdet den Gottesohn und bringt ihn unter die Leut´.
„Er kommt auch noch heute und lehret die Leute“, so beginnt die zweite Liedstrophe. Und wie er lehrt: nicht mit ausgestrecktem Zeigefinger und von ober herab, sondern „in armen Gebärden“, also voller Demut; und nicht allein und für sich bleibend, vielmehr solidarisch bis zur Selbstpreisgabe – so gibt er sich selbst in den Sakramenten.
Ein Wort noch zu den Verfassern des Liedtextes. Es sind die
böhmischen Brüder, eine religiös wie politisch radikale Reformbewegung des 16. Jh., zeitgleich mit unserer Reformation. Eine rechte Arme-Leute- und Laien-Kirche war das, obrigkeitskritisch und pazifistisch, das Asylrecht galt ihnen viel, den bedrohten Waldensern aus Italien gewährten die Böhmischen Brüder Schutz.
Weil sie sich niemals im Besitz der Wahrheit glaubten, haben sie auf die Verdammung anderer Lehren ausdrücklich verzichtet, stattdessen suchten sie das Gespräch und den Austausch mit anderen Kirchen, so mit der armenischen, so auch mit der bulgarsichen Kirche.
Nachdem wir also nun mithilfe der Böhmischen Brüder Christus aus seinem himmlischen Elfenbeinturm und von seinem himmlischen Lehr-Katheder weg zu uns herab geholt haben, bleibt uns noch ein Letztes zu tun. 
Es bleibt uns zu entdecken, wie sehr der lehrende Christus ein lernender ist.
Wie heißt es doch bei Lukas?
Die Eltern fanden ihn, wie er unter den Lehrern saß, ihnen zuhörte und fragte.
Und staunenswert waren seine Einsicht und seine Antworten.

Der zwölfjährige Jesus im Tempel - Max LiebermannGanz nah an der Beschreibung des Lukas hat
Max Liebermann die Szene gemalt; sehr menschlich und vor allem sehr jüdisch gibt Liebermann die Geschichte im Bild wieder, mein zweites Beispiel oder Gegenbeispiel für heute. Übrigens: viel zu menschlich und viel zu jüdisch war dieses Bild etlichen Deutschen damals gegen Ende des 19. Jh. Eine heftige antisemitische Hetze brach los, und der bayerische Landtag mußte sich zwei Tage lang mit der Anklage befassen, Liebermanns Darstellung Jesu sei gotteslästerlich, also blasphemisch. Liebermann hat nach dieser Kampagne nie mehr ein Bild mit biblischer Thematik gemalt.
Besehen wir uns das Bild: der Junge in der Mitte, engagiert hat er die Hände gehoben und spricht. Ob er gerade fragt oder auf eine Frage antwortet, das können wir nicht erkennen. Ihm gegenüber in Augenhöhe ein Lehrer, vielleicht der Rabbi, lose hängt der Tallit, der Gebetsmantel um die Schultern, in der rechten Hand hält er ein aufgeschlagenes Buch, vielleicht einen Band der Tora, vielleicht einen Kommentar, aufmerksam und sehr wohlwollend streicht er über seinen Bart. Der Kleine wird ernstgenommen und er fühlt sich ernstgenommen.
Eine konzentrierte Atmosphäre herrscht, Engagement für die Sache und für den jeweils Anderen, genaues Hinhören und bewegliches Mit-Denken und vor allem etwas ungemein Partnerschaftliches drückt die Darstellung aus.
Ja, so könnte Lernen sein: der Schüler in der Mitte, umringt von aufmerksamen Lehrern; kein Frontalunterricht und keine Belehrung von oben herab. Wer Lehrer und wer Schüler ist, das kann durchaus wechseln – die Nähe zur Sache, um die es jeweils geht, entscheidet darüber, nicht aber ein festes und autoritäres Rollenschema. 
Und so verstehen wir denn auch, warum im Judentum ein Lehrer, er mag noch so vollkommen gelehrt sein, immer
„talmid chacham“, d. h. zu deutsch „weiser Schüler“ heißt. Man hat nämlich nie ausgelernt, und stets kann man auf einen Schüler und seine Fragen treffen, durch die man wieder zum Anfänger wird und wieder am Anfang einer Sache steht. So wunderbar unvollkommen ist man allerdings nur, wenn man nie allein, sondern mindestens zu zweit oder dritt lernt. Wenn man mit seinen Gedanken beim Anderen ist, und sich schon deshalb mit ihm unterreden muß, um seine eigenen Gedanken zurückzubekommen.
„Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind, da bin ich mitten unter ihnen“, sagt Jesus. Und dies Wort hat er von seinen jüdischen Lehrern. Die sagten es so:
„Wo zwei zusammensitzen und sich über Worte der Tora, der Hl. Schrift, unterhalten, da ist Gott gegenwärtig“ (Pirke Awoth 3.3).
G"tt ist mit im Bunde und gesellt sich hinzu, wenn wenigstens zwei mit G"tt etwas zu tun haben wollen, sei es lernend oder sei es im G"ttesdienst. Er hat es immer so gehalten, von Anfang an, von Adam und Eva an.
Und je inniger wir uns miteinander verbinden, indem wir einander mit dem Wort G"ttes verbinden, desto näher kommt uns G"tt selbst.
Das können wir für heute von dem schroffen Knaben lernen, der selbst lernend die Gegenwart des himmlischen Vaters im Tempel zu Jerusalem erfuhr.
Amen.

Und der Friede G"ttes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere 
Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Predigt für den 2. So n. d. Christfest. ( 05.01.03 )

Revidierte Elberfelder Bibel 1992
Lukas Evangelium Kap. 2
41 Und seine Eltern gingen alljährlich am Passahfest nach Jerusalem.
42 Und als er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach der Gewohnheit des Festes;
43 und als sie die Tage vollendet hatten, blieb bei ihrer Rückkehr der Knabe Jesus in Jerusalem zurück; und seine Eltern wußten es nicht.
44 Da sie aber meinten, er sei unter der Reisegesellschaft, kamen sie eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten;
45 und als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten ihn.
46 Und es geschah, daß sie ihn nach drei Tagen im Tempel fanden, wie er inmitten der Lehrer saß und ihnen zuhörte und sie befragte.
47 Alle aber, die ihn hörten, gerieten außer sich über sein Verständnis und seine Antworten.
48 Und als sie ihn sahen, wurden sie bestürzt; und seine Mutter sprach zu ihm: Kind, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.
49 Und er sprach zu ihnen: Was <ist der Grund dafür>, daß ihr mich gesucht habt? Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?
50 Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen redete.
51 Und er ging mit ihnen hinab und kam nach Nazareth, und er war ihnen untertan[b]. Und seine Mutter bewahrte alle diese Worte in ihrem Herzen.
52 Und Jesus nahm zu an Weisheit und Alter und Gunst bei Gott und Menschen.

Anregungen und den Hinweis auf das Bild Max Liebermanns entnahm ich dem Beitrag von
Oliver Gussman in den "
Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext", Perikopenreihe II (2002) Bestellmöglichkeit hier via Internet oder über die folgende Kontaktadresse: "Studium in Israel", c/o Wolfgang Kruse, Römerstr. 14, 73765 Neuhausen, Fax: 07158/946134, e-mail

Liturgie des G"ttesdienstes


erstellt am
07.01.2003

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