Begrüßung:
„Es ist dir gesagt, oh Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: nichts als Recht üben und die Güte lieben und demütig wandeln vor deinem Gott.“
(Micha 6, 8).
Ich begrüße Sie mit diesem Wort aus dem Prophetenbuch Micha zur Andacht; das Wort ist in diesem Jahr auch das Motto der „Woche der Brüderlichkeit“.
Rechtsliebe, Güte und Demut gegen Gott, den Vater, haben Jesus ans Kreuz
gebracht.
... ( Liturgie
der Andacht )
Auslegung zur
„weiße(n)
Kreuzigung“
Das Bild, das uns seit Beginn der Andacht bereits begleitet, trägt den Titel „Die
weisse Kreuzigung“.
Marc
Chagall
hat es gemalt, der jüdische Maler, den wir ob der intensiven Farbigkeit seiner Gemälde und Glasfenster und seiner
liebenswert- phantasievollen Bilderwelt kennen und gewiß mögen.
Sicher, einige Motive erkennen wir auch auf diesem Gemälde wieder, aber wie äußerst zurückgenommen sind die Farben.
Lassen wir uns auf das Bild ein. Da jedoch etliche Details sich nicht sogleich erschließen oder ohne
Ausschnitt-vergrößerung kaum erkennbar bleiben, bitte ich Sie, sich von meinem interpretierenden und kommentierenden Blick durch das Bild geleiten zu lassen.
Weiß
dominiert, Weiß, sehr hell und kalt, Weiß, mit Grau- oder Brauntönen eingedunkelt, wie verschmutzt.Weiß überall auf diesem Bild, ganz unterschiedliche Dinge so
versammelnd:
Ein Lichtstrahl
von oben aus den Himmeln durchbricht den dunklen grauschwarzen Horizont, läuft hinter den Kreuzbalken hinab und ergißt sich übergangslos in den Schnee, der den Erdboden bedeckt. Weiß auch der Nimbus um Christi Haupt und Kopftuch, das die traditionelle Dornenkrone ersetzt.
Weiß (mit den typischen schwarz-blauen Querstreifen) der jüdische Gebetsschal, der den unteren Leib des Gekreuzigten verhüllt.
Eine weiße Leiter verbindet Kreuz und Himmelsstrahl mit der schneebedeckten Erde; doch sieht man nicht, wie und wo die Leiter aufsteht, da ihr unteres Ende im weißen Rauch einer schwelenden Tora-Rolle verschwindet. Ein bärtiger Jude mit einem Sack über der Schulter, grün ist sein Kaftan, bricht gerade auf, er flieht, seine Hand streckt sich gegen den Bildrand aus, als erwarte er von jenseits des Bildes seine Rettung. Der weiße Rauch der schwelenden Tora-Rolle beginnt schon, das Grün seiner Kleidung auszubleichen.
Weiß auch anderes, das einem frommen Juden heilig ist: ein aufgeschlagenes
Gebetbuch direkt unter dem Schuh des Fliehenden,
ein weißer Strahlenkranz geht von den Kerzen der Menora, des siebenarmigen Leuchters aus, der das Kreuz von unten erhellt und mit dem Nimbus um Christi Haupt korrespondiert.
Links im Bild sehen wir einen weiteren
fliehenden
Mann, die eine seiner Hände reckt sich zum vielleicht rettenden Bildrand, die andere hält eine gerettete und geborgene
Tora-Rolle, weiß auch sie.
Vor dem Fliehenden ein alter Mann mit einem Schild, einem Spott- und Schmähschild, auf welchem ursprünglich stand: „Ich bin ein Jude!“. Chagall hat diese Aufschrift später übermalt. Heiliges und Schändliches sind hier in größter Nachbarschaft, eine heilige Rolle hier, ein Schandplakat da – beide weiß.
Über einem überfüllten Boot, das kaum Rettung versprechen kann, wirbeln die
Häuser
eines Dorfes
wie Papierschachteln
durch die Luft. Zum Spielball der Luft geworden, kippen sie ihren Inhalt aus: Menschen wie Mobilar.
Der Aufruhr der Welt macht vor den bergenden Häusern nicht halt, sie verkehren sich ins Gegenteil: Pappschachteln, leicht brennbar, ohne Bodenhaftung – weiß sind die Häuser.
Und vorbei am tobenden bolschewistischen Mob mit blutroter Fahne
und geschwungener Axt geht unser Blick hinauf zur schwebenden Menschengruppe über dem Kreuz.
Da schweben, klagen und gestikulieren die
Stammväter
Israels Abraham, Isaak und Jakob; und
Rachel
gesellt sich herzu. Rachel, die Mutter, die um ihre Kinder weint und so gewiß auch um den toten Sohn ihres Volkes, um Jesus von Nazareth. Alle ihre weißen Hände unterhalten sich miteinander.
Und ganz weiß und transparent vom himmlischen Lichtbalken geworden ist der eine Alte direkt über dem Kreuz.
Und nun hinüber zum rechten oberen Bildteil, dessen Darstellung, eine brennende Synagoge nämlich, auf den Anlaß des Gemäldes verweist. 14 Tage nach der Pogromnacht 1938 malte Chagall dieses Bild.
Ein SA-Mann mit Schaftstiefeln, Braunhemd und Armbinde ist in das Bethaus eingedrungen. Der Vorhang des Tora-Schreins ist schon beiseite gezogen, gleich wird er die Rollen herausreißen und in den Dreck werfen. Über dem Schrein wachen die beiden Löwen von Juda, darüber der Davidstern und noch darüber die beiden Tafeln mit den zehn Geboten, weiß sind sie.
Eine riesige orangefarbene Feuerfahne schlägt aus dem G"tteshaus, sie züngelt herüber zum himmlischen Lichtstrahl. Verbrennt das Feuer des Götzendienstes das Licht, das vom Himmel kommt? Jedenfalls: Helle gegen Helle, Licht gegen Licht.
Die ganze Welt ist in Aufruhr; Chagall wählt eine eckige, zackige Formgebung, um ihren Unfrieden auszudrücken.
Nur zwei Ruhefelder kennt das Bild: einmal eine ganz kleine Menschengruppe zwischen den papiernen Häuserschachteln, vielleicht Chagalls Familie selbst darstellend.
Und
dann der Gekreuzigte selb begrenzt von zwei Rundformen, dem Nimbus einerseits, der Menora, also dem Leuchter, andererseits. Riesig groß ist der ausgestreckte Leib, leibgewordene Demut. Die Augen sind geschlossen, das Haupt gesenkt – immer wieder zieht der entzogene Blick Christi, ziehen die gesenkten Augenlider den Blick des Betrachters an.
Die Leiter an seiner Seite verbindet Himmel und Erde, sie endet im Rauch der schwelenden Rolle, sie bringt den Frevel, der an G"ttes Heiligtümern getan wird, übers Kreuz vor G"ttes Thron. Die Leiter an seiner Seite bringt aber auch den hellen Himmelsstrahl hinab auf die Erde, hinab zu den Opfern, übers Kreuz.
Amen.
Liturgie der Andacht
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